Guaia Guaia

Veränderung bedeutet Arbeit, Organisation und Selbstdisziplin. Wenn Elias und Luis auf ihrer neuen CD "Eine Revolution ist viel zu wenig" von einem Häuschen am Ostkreuz singen, dann meinen sie keines der neugebauten Townhouses auf der Stralauer Halbinsel, in denen sich junge aufstrebende Familien den Traum vom städtischen Eigenheim verwirklichen.
Ihr Häuschen ist etwas kleiner, liegt etwas abseits, hat kein fließendes Wasser und der Strom ist angezapft. Doch es ist kein Phantasieprodukt. Elias und Luis leben darin. Die beiden Musiker von Guaia Guaia haben das Häuschen einfach gefunden, wie sie sagen. Es stand herum. Keiner brauchte es, also sind sie da rein.
Seit ein paar Jahren versuchen sie ihr Leben auf diese Art, ohne lästige Mietzahlungen und andere finanzielle Verpflichtungen auf die Reihe zu bekommen. Das erfordert zwar eine Menge Engagement, Improvisationsgabe, Einfallsreichtum und vor allem die Bereitschaft eine Erdtoilette zu benutzen – ohne Spülung und mit dem Nachteil sie regelmäßig selbst entsorgen zu müssen.
Komfort geht anders, aber was ist schon Lebensqualität? "Dafür müssen wir halt nicht arbeiten gehen, das ist ja auch ein Vorteil", erklärt Luis, lächelt und wirkt dabei ganz zufrieden. Guaia Guaia sind eine Herausforderung. Eine Herausforderung an konventionelle Denkmuster vor allem. Was irgendwann einmal aus der puren Not heraus geboren wurde, ist nun eine Haltung geworden.
Ein Lifestyle könnte man sagen, aber wahrscheinlich ist es eher ein Experiment. Ein Experiment mit der Fragestellung: Könnte es nicht anders gehen? Elias Gottstein und Carl Luis Zielke kommen aus Neubrandenburg und haben irgendwann einmal beschlossen, dass sie Musik machen möchten – ausschließlich Musik machen. Nichts anderes. Keine Jobs nebenher. Keine Sicherheit. Kein Netz und doppelter Boden. Musik!
Doch wenn man aus dem nordöstlichsten Zipfel der Bundesrepublik Deutschland kommt, aus Mecklenburg-Vorpommern – mehr oder weniger vom Land – dann sind die Chancen, diesen Traum zu leben, eher gering. Musik machen, ihr? Ihr spinnt! Doch wer sagt das? Wer schreibt einem das vor? Wo steht das geschrieben? Wo steht geschrieben, dass es nicht klappen könnte?
Und so zogen Luis und Elias vor drei Jahren los, um auf der Straße Musik zu machen. Sie wollten es ausprobieren. Sie wollten testen, ob sie das Talent haben, Leute zu begeistern, Leute zum Stehenbleiben zu bewegen und dazu, ihnen Geld für ihre Darbietung zu geben. Das ist eine der härtesten und direktesten Schulen, die es für einen Musiker gibt, doch es klappte.
Tatsächlich verdienten die beiden Musiker Geld mit ihrer Sache, doch dabei stellten sie fest, dass zu hause die Kosten ja trotzdem weiter liefen. Also haben sie sich kurzerhand dazu entschlossen, auf ihre Wohnungen zu verzichten und die Sicherheit einer festen Adresse aufzugeben. Das, was ihnen gehört, passt ohnehin in zwei umgebauten Mülltonnen oder Lastenfahrräder. Das, was sie brauchen, haben sie sowieso immer dabei.
Seitdem leben sie auf der Straße. Seitdem kann man sie nur über die Briefkästen irgendwelcher Freunde erreichen. Seitdem sind sie offiziell wohnungs- wenn auch nicht unbedingt obdachlos. Sie schlafen bei Freunden und Bekannten. Sie quartieren sich bei wildfremden Menschen ein, bei Zufallsbekanntschaften, Zuhörern und Fans, die ihnen für zehn Stunden ein Zuhause anbieten, oder auch für zwei Tage.
Ein eindrucksvolles Bild dieser Zeit liefert der Film "Unplugged: Leben Guaia Guaia", der auf dem Filmfest München 2012 Premiere feierte, den Publikumspreis des Bayerischen Rundfunks gewann und in diesem Jahr in die Kinos kommt. Der Regisseur und Filmemacher Sobo Swobodnik begleitete die Band zwei Jahre auf ihrer abenteuerlichen Reise durch die Fußgängerzonen des Landes, wie sie von wildfremden Leuten auf einen Schlafplatz eingeladen werden, in Oberammergau mit den Darstellern der Passionsspiele ein rauschendes Fest feiern oder auf der Suche nach einem Winterquartier sind.
Braucht man einen Unterschlupf für länger, so ist auch dieser irgendwo aufzutreiben, denn ein Obdach zu finden ist im Endeffekt nicht schwer. Mann muss nur die Augen offen halten und schon wird man entdecken das überall Wohnungen leer stehen, Häuser, Fabriken, Gartenanlagen, Turnvereinsheime, Gaststätten, Ladengeschäfte. Solange Wohnraum eine Ware ist, mit der man Geld erwirtschaften kann, wird sich an diesem Umstand auch nichts ändern.
Auf der einen Seite Leerstand, auf der anderen Seite Obdachlosigkeit – diese Logik steckt im System. Doch warum sollte man das einfach so akzeptieren? Wo steht das geschrieben, dass es so sein muss? Wer sagt das? Elias und Luis besetzen Häuser. Nicht laut und krawallig, nein einfach so. Sie setzen sich einfach hinein, solange es geht und solange offensichtlich niemand einen Anspruch darauf erhebt.
Sie wollen niemanden bekehren. "Es ist uns schon klar, dass wir privilegiert sind und nicht jeder so leben kann, wie wir", ist sich Elias seiner Sonderstellung durchaus bewusst, "aber heißt das, dass man es nicht probieren sollte?" Nein, das heißt es nicht! Guaia Guaia machen alles anders und stellen die Welt auf den Kopf.
Letzten Sommer haben sie einen Deal bei Universal Music Deutschland unterschrieben und im nächsten Sommer werden sie ebendort "Eine Revolution ist viel zu wenig", ihre nunmehr vierte CD veröffentlichen. Nach drei independent Produktionen, Tausenden von Konzerten auf der Straße, in besetzten Häusern, auf Privatpartys, in Hinterzimmern und auf ganz großen Bühnen, fühlen sie sich fit genug mit einem Major zusammen zu arbeiten.
Auch das ein Bruch mit den eigenen Klischees. So etwas tut man doch nicht, wenn man so gesellschaftskritisch unterwegs ist. Das riecht nach Verrat. Doch wer sagt das? Wo steht das geschrieben und wenn ja, ist das ein Gesetz? Und wenn es ein Gesetz ist, muss man es befolgen? Guaia Guaia, weigern sich. Erwartungen sind vielleicht nur deshalb da, um gebrochen zu werden und für Elias und Luis war der Schritt ins Musikgeschäft nur logisch.
Wenn man sich nicht mehr um seine eigene Vermarktung kümmern muss, dann hat man wieder mehr Zeit zum Musikmachen, so ihre ganz einfache Rechnung. Denn trotz aller Hippieromantik und Straßenmusik und radikalem Bruch mit bürgerlichen Konventionen, haben sie letztendlich eben auch CDs herausgebracht, Auftritte organisiert, sich als Band bekannt gemacht, Tätigkeiten, die immer mehr Zeit in Anspruch genommen haben und von denen sie jetzt gerne wieder einen Teil abgeben würden.
Dass dabei ein paar Hoffnungen enttäuscht werden könnten, nun ja, das muss man in Kauf nehmen. Doch Elias und Luis nehmen den Druck, der auf ihnen lasten könnte, einfach nicht an. Nein Danke. Natürlich taugt ihr Lebensweg zur Verklärung. Natürlich ist die Art, wie die beiden ihr Leben gestalten für manche der ganz große Gegenentwurf: Romantisch, wild und gefährlich. Doch darauf kommt es Guaia Guaia gar nicht an.
Nein, das ist nicht Revolutionsromantik mit Hängematte, Joint und Che Guevara Poster an der Wand, das ist einfach eine Form, in dieser Gesellschaft zu überleben und dabei die Spielregeln ein wenig außer Kraft zu setzen. Das könnte im Grunde jeder machen, obwohl es eben nicht jeder machen kann. Das ist nicht die große Revolution und auch keine Heilslehre, aber: Eine Revolution ist es eben doch und sie ist sehr radikal.

Guaia Guaia! – Eine Revolution ist viel zu wenig!